Ort wechselvoller Demokratiegeschichte
Das Alte Landratsamt (Kreisständehaus) wurde 1898/1900 nach Plänen des Architekten Regierungsbaumeister Koch im Stil der Neorenaissance als Sitz der Kreisverwaltung Moers (1857-1975) erbaut und am 16. Mai 1900 feierlich eingeweiht. Bereits sieben Jahre später musste das Gebäude erweitert werden: Der Anbau wurde 1908 fertiggestellt.
Der Bau des Gebäudes in seinen beiden Etappen spiegelt den insbesondere durch den Bergbau bedingten Aufschwung der Kreisstadt Moers in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wider. Wie kein anderes Gebäude in Moers steht das Alte Landratsamt für die wechselvolle Demokratiegeschichte: Die Überschrift „Kreis-Ständehaus“ über dem Haupteingang verweist auf das Dreiklassenwahlrecht, das 1845 bis 1918 in den preußischen Rheinprovinzen galt. Wählen durfte nur, wer Steuern zahlte. Je mehr Steuern jemand entrichtete, umso mehr Stimmgewicht hatte er.
Im Zuge der Novemberrevolution 1918 am Ende des Ersten Weltkriegs tagte am 11. November 1918 der Arbeiter- und Soldatenrat im Kreisständehaus. Nach der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts konnte Günther van Endert als erster voll demokratisch legitimierter Landrat sein Amt antreten. 1933 bis 1945 fungierte das Landratsamt als regionale Machtzentrale der Nationalsozialisten: Der Landrat wurde abgesetzt und ein Kreisausschuss eingerichtet. Karl Bubenzer, NSDAP-Kreisleiter und seit 1942 Landrat des Kreises Moers, wirkte von hier aus.
Während der NS-Zeit dienten die Landräte und die im Gebäude untergebrachte Kreispolizei dem NS-Regime. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beherbergte das unzerstört gebliebene Gebäude die amerikanische und die britische Verwaltung.
Später konnten Landrat und Kreistag hier wieder ihre Arbeit aufnehmen. Bis zum Bau des neuen Moerser Kreishauses in der Meerstraße 1962 war das Alte Landratsamt Sitz des Kreistages und der Kreisverwaltung.
Nach der Kreisreform und dem Wegzug der Kreisverwaltung nach Wesel nutzte die Volkshochschule das Gebäude von 1984 bis 2010.
Die Nutzung
Seit dem Umzug der vhs Moers - Kamp-Lintfort in das Hanns-Dieter-Hüsch Bildungszentrum im Herbst 2010 stand das Gebäude Altes Landratsamt am Kastell leer. Bereits 2009/2010 hatte eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Grafschafter Museums ein Nutzungskonzept erstellt, das als Teil des Masterplans Innenstadt in das Programm der
Städtebauförderung aufgenommen wurde. Im Herbst 2016 konnte die Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes beginnen.
Die Sanierung des Gebäudes übernahm die Stadtbau Moers GmbH. Die Kosten belaufen sich auf rund 6,4 Mio. Euro. 80 Prozent der Sanierungskosten erhält die Stadt Moers im Rahmen der Städtebauförderung vom Land NRW und vom Bund.
Nach rund 2jähriger Bauzeit beherbergt das Gebäude nun mehrere Nutzungen:
- eine Dauerausstellung des Grafschafter Museums zur Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den Schwerpunkten Demokratiegeschichte, jüdisches Leben, demokratischer Neubeginn und Hanns Dieter Hüsch
- einen pädagogischen Sammlungs- und Studierbereich des Vereins Neue Geschichte im Alten Landratsamt und seiner Mitgliedervereine
- Kurs- und Büroräume für die vhs Moers - Kamp-Lintfort
- Infrastruktur für das Grafschafter Museum: Magazin- und Lagerräume
- das Kulturbüro der Stadt Moers
- eine Gastronomie mit Außengastronomie
Bauzeichnung (Schnitt) für den ersten Gebäudeteil 1898.
[Original: Kreisarchiv Wesel]Ehemalige Verfolgte des Nationalsozialismus im Nachkriegskreistag: Foto mit Hermann Runge, Otto Schuldenburg, Richard Buchmann und Hugo Josef Simecek
[NS-Dokumentationsstelle Moers]Altes Landratsamt Altes Landratsamt - Außenansicht der Eingangstür
Foto: Bettina Engel-AlbustinAltes Landratsamt - Außenansicht des Turmes
Foto: Bettina Engel-AlbustinDie NS-Kreisleitung – die sogenannten „Goldfasane“ – vor dem Landratsamt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte der im Moerser Landratsamt tagende Kreistag den Kreis-Entnazifizierungsausschuss ein. Foto um 1955
[NS-Dokumentationsstelle Moers]
Allein unter Männern: Im März 1925 rückte Marie Müller für einen verstorbenen Abgeordneten nach. Bei den folgenden Wahlen 1925 und 1929 errang sie selbst die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Bereits seit 1919 gehörte sie dem Rat der Stadt Kamp-Lintfort an. Das Gebäude noch ohne Erweiterungsbau, Foto um 1900.
[Grafschafter Museum im Moerser Schloss]Innenansicht des Sitzungssaals, Foto um 1930
[NS-Dokumentationsstelle Moers]